Erzieherisches Handeln und Prophylaxe
Einleitung
Ist massives Fehlverhalten professioneller Fachkräfte in der Jugendhilfe in Form von Gewaltanwendung oder Missbrauch ein nennenswertes Phänomen? Sind entsprechende Presseartikel aufgebauschte Einzelfälle oder sind diese die Spitze eines Eisberges? In Gesprächen mit Einrichtungen lautet die am häufigsten genannte Antwort: „ Bei uns gibt es so etwas nicht“. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass diese Themen zumeist nicht an die Öffentlichkeit dringen und dass es vielleicht (noch) am nötigen Problembewusstsein mangelt. Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema bedeutet aber immer auch die Reflexion eigener Erfahrungen sowie möglicherweise eigener Schuld- und Schamgefühle, so dass eine Auseinandersetzung erst dann kein Tabu mehr ist, sobald eine differenzierte und Offenheit wertschätzende Auseinandersetzung geführt wird und nicht pauschal und klischeehaft in Kategorien wie der „böse“ Erwachsene und das „unschuldige“ Kind gedacht wird. Nach meinem Eindruck findet in jüngster Zeit jedoch eine stärkere Sensibilisierung und Auseinandersetzung mit dieser Thematik statt, wenngleich noch viel zu wenig über das tatsächliche Ausmaß bekannt ist und es kaum empirisch belegte harte Fakten gibt.
Im Folgenden möchte ich das spezifische Jugendhilfeangebot „Erziehungsstelle“ im Umgang mit Macht, Grenzsetzungen und Gewalt näher beleuchten sowie für das erzieherische Handeln und die Alltagsgestaltung in Erziehungsstellen ein Problembewusstsein schärfen und Unterstützungsmöglichkeiten erarbeiten, damit die Risiken für ein Fehlverhalten von Mitarbeitenden verringert werden können. Mir geht es dabei jedoch nicht um die Auseinandersetzung mit massiven, pressewirksamen Einzeltaten im Bereich Gewalt und Missbrauch durch Mitarbeitende in Jugendhilfeeinrichtungen, sondern um die Gestaltung des Lebens und des Alltags in Erziehungsstellen und das tägliche Ringen um eine angemessene und gewaltfreie erzieherische Arbeit.
Dieser Aufsatz liefert keine Patentrezepte, sondern will Anregungen zu einer differenzierten Auseinandersetzung und Prophylaxe geben. Ist Gewalt erst einmal eskaliert, sind die Chancen einer weiteren fruchtbaren pädagogischen Arbeit verspielt.
Rechtsvorgaben
Die rechtlichen Vorgaben für den Umgang mit den uns anvertrauten jungen Menschen sind eindeutig, unabhängig ob wir sie als Eltern, im Rahmen einer Pflegefamilie oder als pädagogische Fachkräfte in einer Jugendhilfeeinrichtung ausüben:
Als Leitlinie dient dabei zum einen die UN-Kinderrechtskonvention, die im November 1998 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde und in 54 Artikeln die Rechte des Kindes (UN-KRK) festlegt. Seitdem im Jahre 1992 auch die Bundesrepublik Deutschland die Kinderschutzkonvention – wenn auch mit bestimmten Einschränkungen – ratifizierte, ist diese für die Bundesrepublik und damit auch für den Bereich Jugendhilfe bindend.
Die Konvention verlangt, geeignete Maßnahmen zu treffen, um das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu sichern und sie vor jeder Form von Gewaltanwendung zu schützen, wie es die Artikel 3, 19 und 20 auszugsweise zeigen sollen:
Artikel 3
(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
(2) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen.
(3) Die Teilnehmerstaaten stellen sicher, daß die für die Fürsorge für das Kind oder dessen Schutz verantwortlichen Institutionen, Dienste und Einrichtungen den von den zuständigen Behörden festgelegten Normen entsprechen, insbesondere im Bereich der Sicherheit und der Gesundheit sowie hinsichtlich der Zahl und der fachlichen Eignung des Personals und des Bestehens einer ausreichenden Aufsicht.
Artikel 19
(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Mißhandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Mißbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.
(2) Diese Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirksame Verfahren zur Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die dem Kind und denen, die es betreuen, die erforderliche Unterstützung gewähren und andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie Maßnahmen zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung in den in Absatz 1 beschriebenen Fällen schlechter Behandlung von Kindern und gegebenenfalls für das Einschreiten der Gerichte.
Artikel 20
(1) Ein Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird oder dem der Verbleib in dieser Umgebung im eigenen Interesse nicht gestattet werden kann, hat Anspruch auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates.
(2) Die Vertragsstaaten stellen nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts andere Formen der Betreuung eines solchen Kindes sicher.
(3) Als andere Form der Betreuung kommt unter anderem die Aufnahme in eine Pflegefamilie, die Kafala nach islamischem Recht, die Adoption oder, falls erforderlich, die Unterbringung in einer geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung in Betracht. Bei der Wahl zwischen diesen Lösungen sind die erwünschte Kontinuität in der Erziehung des Kindes sowie die ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft des Kindes gebührend zu berücksichtigen
Im Bemühen, ein Leitbild für eine gewaltfreie Gesellschaft in allen Bereichen zu entwerfen, hat der Gesetzgeber im November 2000 das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung eingeführt, in dem körperliche und seelische Bestrafungen der eigenen Kinder untersagt werden. Dies wird im Absatz 2 § 1631 BGB konkretisiert: In § 1631 Abs. 2 BGB „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Mit der neuen Formulierung wird betont, dass Gewalt kein geeignetes Erziehungsmittel ist. Sie wurde in dieser Form gewählt, um Eltern nicht zu kriminalisieren. Nicht nur körperliche, sondern auch psychische Formen von Gewalt sollten untersagt werden, wie beispielsweise Liebesentzug oder öffentliche Bloßstellung des Kindes. Die Intention des Gesetzgebers war dabei, in Anlehnung an das schwedische Vorbild ein absolutes Verbot von Körperstrafen einzuführen, um das Bewusstsein für eine gewaltfreie Erziehung bei den Eltern zu schärfen.
Flankierend dazu wurde der § 16 Abs. 1 SGB VIII um den Zusatz ergänzt, dass im Rahmen der Leistungen einer allgemeinen Förderung der Erziehung auch Wege aufgezeigt werden sollen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können. Hier hat die Jugendhilfe die wichtige Aufgabe bekommen, einen Bewusstseinswandel zu unterstützen und Hilfen sowie Beratung anzubieten.
Im Oktober 2005 wurde das SGB VIII um den § 8a ergänzt, dass den Schutz des Kindes vor Kindeswohlgefährdung verbessert und konkretisiert und dass sowohl für die öffentlichen wie für die privaten Träger den Schutzauftrag deutlich definiert und sich damit einen bewussteren Blick auf die Lage von Kindern entwickelt. Über den Auftrag des § 8a SGB VIII werden Vereinbarungen zwischen öffentlichen und freien Trägern geschlossen, die Verantwortung und Verfahrensweisen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung konkreter definieren, die Meldepflichten festlegen und das Wohl des Kindes vor den Datenschutz stellen. Einrichtungsinterne Verfahrensabläufe und Verantwortlichkeitsregelungen sind von den freien Trägern zu entwickeln und bei Verdacht sind die Sorgeberechtigten und wenn möglich die „Gefährder“ mit einzubeziehen und eine Einrichtung muss prüfen, ob sie über Schutzpläne ausreichend Hilfe anbieten kann, um eine Kindeswohlgefährdung zu beenden. Einrichtungen müssen also bewusster und genauer aufs Kind schauen – auch bezüglich des Kindeswohls konkret in der eigenen Einrichtung.
Besonders in Arbeitszusammenhängen, die dem Kinderschutz verpflichtet sind, hat massives Fehlverhalten konsequenterweise auch straf-, arbeits- und zivilrechtliche Folgen. Ebenso sind Einrichtungen, Heimaufsichtsbehörden und Verbände hier zur Zusammenarbeit aufgefordert, wie es beispielsweise Manfred Busch aufzeigt. (siehe auch Broschüre des Bundesministerium der Justiz „Gewaltfreie Erziehung“ Eine Bilanz nach Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung 2003, unter fachlicher Beratung von: Prof. Dr. Kai-D. Bussmann Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg) (Manfred Busch Umgang mit massivem Fehlverhalten – eine Einleitung in M. Fegert, M. Wolff , Sexueller Missbrauch durch professionelle Institutionen, Votum 2002)
So eindeutig die rechtliche Lage auch sein mag, so schwer ist es, den alltäglichen komplexen Anforderungen im erzieherische Handeln gerecht zu werden. Im pädagogischen Alltag ist es eben nicht immer leicht – von eindeutigen Gewalt- und Missbrauchssituationen abgesehen, die ich hier nicht meine – erzieherische Maßnahmen / Sanktionen oder das Setzen von Grenzen von unzulässigen Grenzverletzungen und von psychisch – emotionaler Gewalt zu unterscheiden, zumal erzieherische Konflikte sich schnell aufschaukeln und eskalieren können. Wenn es um den Anspruch einer gewaltfreien Erziehung geht, kann in der sensiblen Reflexion des Alltags ein Gefühl von Unsicherheit und dem Betreten rechtlicher Grauzonen entstehen.
Was können wir also tun, um sowohl konzeptionell als auch im alltäglichen Handeln die uns anvertrauten jungen Menschen und damit auch uns selbst vor Gewalt, Grenzverletzungen und Machtmissbrauch zu schützen und im Sinne des o.g. gesellschaftlichen Leitbildes Sicherheit im erzieherischen gewaltfreien Handeln zu gewinnen?
Erziehung, Grenzen und Gewalt als Machtprozesse
Um das erzieherische Geschehen und das Alltagsleben in Erziehungsstellen genauer zu betrachten, möchte ich – quasi unter einem theoretischen Blickwinkel – hier den Denkansatz und die Untersuchungen von Klaus Wolf als Grundlage nehmen. (Wolf, Machtprozesse i. d. Heimerziehung, Votum 1999) K. Wolf weist darauf hin, dass es sich bei Erziehung stets um einen Machtprozess handelt
„Die Verbindung von Pädagogik und Macht hat etwas Anrüchiges. Denn sollte Erziehung nicht ohne Macht auskommen? Sollten Erzieherinnen nicht andere Mittel haben als Machtmittel? Und wenn der Einsatz von Machtmitteln schon nötig ist, dann doch hoffentlich so kurz wie möglich – allenfalls als Ultima Ratio, da sie doch zugleich ein Indikator dafür zu sein scheint, dass etwas schief gelaufen ist, wahrscheinlich sogar, dass jemand versagt hat.
Andererseits kennt wohl jede Pädagogin auch das Gefühl der Ohnmacht und den Wunsch, sich durchzusetzen und mehr Einfluss zu gewinnen. Wir befinden uns mit der Frage nach Pädagogik und Macht also nicht am Rande der praxisrelevanten Fragen, sondern mittendrin – allerdings mitten in einem heiklen Feld.“
Wolf stellt fest: „Erziehung hat als eine strukturelle Voraussetzung einen Machtüberhang zugunsten der Erziehenden. Damit konzentriert sich die (theoriegeleitete) Wahrnehmung auf die Frage: Durch welche Machtmittel und aus welchen Machtquellen wird dieser Überhang hergestellt? Sowohl die Erziehungsziele als auch die Auswahl der Machtmittel ist begründungsbedürftig.“
Macht wird dabei von Wolf im Sinne von Norbert Elias definiert, der folgendes formulierte: “ Insofern als wir mehr von anderen abhängen als sie von uns, mehr auf andere angewiesen sind als sie auf uns, haben sie Macht über uns, ob wir nun durch nackte Gewalt von ihnen abhängig geworden sind oder durch unsere Liebe oder durch unser Bedürfnis, geliebt zu werden, durch unser Bedürfnis nach Geld, Gesundung, Status, Karriere und Abwechslung“. (vgl. Elias 1986: 77).“ ( K. Wolf, „Macht, Pädagogik und ethische Legitimation“, Evangelische Jugendhilfe 2000: Heft 4: 197 – 206) .
Folgen wir diesem Ansatz, dann wird klar, dass wir „Machtausübung“ als eine wertneutrale Kategorie, als ein konstitutives, unvermeidliches, sowie strukturelles Element in allen menschlichen Beziehungen begreifen müssen in privaten wie in professionell gestalteten Beziehungen. Kurz, es gibt keine machtfreie Erziehung.
Gewalt oder Grenzverletzungen sind unter dieser Blickweise Machtprozesse, die in einem Beziehungsgefüge einen Machtüberhang und eine Abhängigkeit in einem derart hohen Maße erzeugen und ausnutzen, so dass das physische und psychisch-emotionale Wohl bzw. Bedürfnisse und Interessen mindestens eines Beziehungspartners, gefährdet oder verletzt werden. Weiter fehlt diesen Handlungen im gesellschaftlichen Normensystem (ethisch, rechtlich) die Legitimation.
Gewalt und Grenzverletzungen entstehen vor allem dann, wenn ein Aushandeln und Akzeptieren einer Machtbalance nicht gelingt, aber eine hohe Abhängigkeit – wie Elias es definiert hat – Grundlage einer Beziehung bleibt. Balance bedeutet dabei nicht, dass die Machtverteilung auf beiden Seiten gleich hoch sein muss und zur Norm erhoben wird, sondern Balance bedeutet ein ständiges fließendes Austarieren der Machtverhältnisse. Fehlgeleitete, die Verhandlungspartner nicht befriedigende Machtbalanceprozesse können so eine eskalierende Eigendynamik zu Kampf-Beziehungen, zu einem Gewinner –Verlierer Geschehen entwickeln und in nicht legitimierter Gewaltausübung enden. So werden im erzieherischen Alltag „aus Mücken Elefanten“, in dem am Ende das physische oder psychisch-emotionale Wohl aller Beteiligten verletzt worden ist.
Die Verletzung von Grenzen, Gewaltbereitschaft und Ausübung von Gewalt hängen damit stark vom Umgang mit Abhängigkeiten, von einer gelingenden Machtbalance und von einem für die erzieherische Arbeit wie für das familiäre Zusammenleben akzeptierten und legitimierten Machtüberhang der Erziehungsstelleneltern im Familiensystem ab.
In Anlehnung an Wolf möchte ich dazu das Setting von Erziehungsstellen näher betrachten und einschätzen.
Macht und Machtbalance in Erziehungsstellen
Erziehungsstellen haben sich nach § 33 SGB VIII aus der Tradition der Vollzeitpflege oder nach § 34 SGB VIII aus der Tradition der stationären Erziehung entwickelt und in ihrer inzwischen über ein Vierteljahrhundert andauernden Entwicklung haben sie sich gerade in jüngerer Zeit weiter differenziert und sind damit ein sehr individuelles Angebot in der Jugendhilfe. Es wird zunehmend schwer, pauschale allgemeingültige Aussagen über sie zu treffen. In Leistungsbeschreibungen und Konzepten werden jedoch überwiegend folgende charakteristische Aussagen getroffen:
In der Privatsphäre und im Familiensystem einer pädagogischen Fachkraft werden junge Menschen aufgenommen und prinzipiell über 24 Stunden täglich und über das ganze Jahr betreut. Es gibt keinen Wechseldienst und die Betreuung orientiert sich an einem „normalen“ Familienleben. Die Erziehungsstelle teilt ihren privaten Wohnraum mit dem jungen Menschen, so dass alle Mitglieder sich auch in körperlicher Hinsicht erleben. Die jungen Menschen erfahren ein familiär geprägtes Beziehungsangebot in Form von Eltern- und Geschwisterbeziehungen und sind in der Regel auch in das soziale Netz der Familie mit einbezogen. Nach innen und außen gerichtet orientieren sie sich möglichst wenig stigmatisierend an die normale Lebenswelt. Gleichzeitig bieten sie eine umfassende, professionelle und ganzheitliche Förderung und Entwicklung in einem pädagogisch/therapeutisch geprägten Alltag insbesondere unter Einbezug der Herkunftsfamilie sowie den Systemvorgaben des Jugendhilfesystems an.
Im differenzierten Spektrum der Jugendhilfe sind Erziehungsstellen das Angebot, dass jungen Menschen eine besondere Nähe, Kontinuität und Geborgenheit aber auch ein konsequentes und klar strukturiertes Erziehungsverhalten bietet.
Kinder und Jugendliche, die in Erziehungsstellen aufgenommen werden, erhalten eine im Vergleich zur „normalen“ Pflegefamilie oder zur ambulanten Betreuung eine „teure“ und professionelle (stationäre) Hilfe. Besonders heutzutage unter dem Diktat leerer Kassen blicken diese jungen Menschen bereits häufig auf einen langen Weg in der öffentlichen Jugendhilfe zurück, oftmals mit mehrfachen Beziehungsabbrüchen und verwahrlosenden, oder gewalttätigen, suchtmittelgesteuerten oder missbrauchenden Beziehungserfahrungen. Wenn diese jungen Menschen Erziehungsstellen vorgestellt werden ist oft von gravierenden Verhaltensauffälligkeiten und einschneidenden Entwicklungsdefiziten die Rede.
Nehmen die jungen Menschen mit den Familienmitgliedern einer Erziehungsstelle Kontakt zueinander auf und erfolgt daraufhin eine Aufnahme, beginnt eine gegenseitige Beziehungsaufnahme sowie eine Neuorientierung der Rollen und Positionen im gesamten Erziehungsstellensystem und damit auch ein Austarierungs- und Balancierungsprozess der Machtverteilung und des erzieherisch notwendigen Machtüberhangs.
Für alle Mitglieder der Erziehungsstelle – aufgenommenen wie eigenen Kindern und Jugendlichen – ist und wird das Familiensystem zu dem Ort, an dem die tägliche Befriedigung persönlichster Wünsche und Bedürfnisse stattfindet. Dies ist ebenfalls der Ort, an dem am direktesten und eher frei fließend die jeweiligen psychisch- emotionalen und körperlichen Befindlichkeiten ausgedrückt und die Befriedigung dieser Bedürfnisse eingefordert werden.
Im Sinne Wolfs lässt sich vermuten, dass durch das oben beschriebene Setting alle Mitglieder einer Erziehungsstelle, also die jungen Menschen und ebenso wie die Erziehungsstelleneltern, sich in hoher gegenseitiger Abhängigkeit voneinander befinden und dass für alle das Aushandeln einer akzeptierten Machtbalance und eines angemessenen Machtüberhangs der Erziehungsstelleneltern die Basis für die Alltagsgestaltung und ein erfolgreiches erzieherische Handeln bilden. Weiter lässt sich vermuten, dass dies aufgrund der individuellen Bedeutung und der starken gegenseitigen Abhängigkeit in der Bedürfnisbefriedigung unter hoher emotionaler Beteiligung geschieht.
Die bisherigen Überlegungen zum Setting zeigen, dass Erziehungsstellen eine kraftvolle und wirksame Ausgangsbasis für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit und entwicklungsfördernde Alltagsgestaltung bieten. Durch die Aufnahme in dieses private, archaische und gesellschaftlich akzeptierte Sozialisationssystem besteht die Chance, dass der notwendige erzieherische Überhang an Macht der Erziehungsstelleneltern für den jungen Menschen quasi „natürlich“ legitimiert und dem kindlichen Entwicklungsprozess angemessen akzeptiert und pädagogisch genutzt werden kann.
Dadurch, dass eine Erziehungsstelle tatsächlich eher dem gesellschaftlichen Idealbild einer Familie entspricht als heutzutage viele andere „normale“ Familien kann die Erziehungsstelle dem jungen Menschen im Sinne Wolfs im Alltag „etwas bieten“, indem sie neben der Kontinuität in der Betreuung und Versorgung, Flexibilität, Individualität und Nähe sicherstellt und auf diese Weise den Bedürfnissen und Interessen gerecht wird, so dass der Machtüberhang legitimiert ausgehandelt werden kann. Die großen gegenseitigen emotionalen Verflechtungen ermöglichen vielfältige pädagogische und lernträchtige Anregungen.
Erziehungsstellen bieten daher starke Machtmittel und Quellen für eine legitimierte Arbeit. Im Vergleich zu anderen stationären Unterbringungsformen liegt hier ihre Stärke. Diese große gegenseitige Abhängigkeit birgt jedoch auch Risiken:
Was passiert, wenn diese Machtmittel – von wem auch immer – missbraucht werden und es der Erziehungsstelle und dem jungen Menschen nicht gelingt, eine akzeptierte Machtbalance zu finden, jedoch die hohe gegenseitige Abhängigkeit bestehen bleibt? Dann kann die o.g. Stärke zu einem hohen Risiko werden, denn Machtkämpfe mit hoher emotionaler Beteiligung sind eine kraftvolle Motivation für eskalierende gewalttätige Problemlösungsversuche auf beiden Seiten, für den jungen Menschen wie für die Erziehungsstelle.
Erziehungsstellenarbeit als Beziehungsarbeit
Jede Erziehungsstelle ist ein individuelles und einmaliges System mit einer eigenen „Familienkultur“, die sich meist natürlich und intuitiv entwickelt hat. Der junge Mensch betritt mit seiner Aufnahme dieses System und bringt seinen eigenen Erfahrungshintergrund und seine eigene „Familienkultur“ mit ein. Damit betritt auch die Herkunftsfamilie quasi durch die „Hintertür“, nämlich in den psychisch – emotionalen Prozessen und Erfahrungen des jungen Menschen, die Erziehungsstellenfamilie. Erziehungsstellen müssen dies wissen und im systemischen Sinne verarbeiten. Sie müssen sich darauf einstellen, dass die konkreten Erfahrungen des jungen Menschen eher weit vom gesellschaftlichen Idealbild eines gewaltfreien Umgangs entfernt sind und dass Gewalterfahrungen sowohl in der Rolle als Opfer zu entsprechenden Traumatisierungen und emotionalen Bewältigungsstrategien geführt haben aber auch als „Täter“, diese Erfahrungen als Ressource und Kommunikationsmittel für die eigene Konfliktlösung und Interessendurchsetzung erlernt wurden und genutzt werden.
Die Aufnahme in eine Erziehungsstelle ist daher immer für alle Beteiligten auch eine Art „Kulturschock“. Weder der junge Mensch, noch die Erziehungsstellenfamilie sind in der Lage, ihre Erfahrungen und Erwartungen über Bord zu werfen. Die erste Anpassungsphase des aufgenommenen jungen Menschen ist, wie beispielsweise bei Westermann und Nienstedt beschrieben, meist kurz und die Aufnahme und Beziehungsentwicklung in der Erziehungsstelle wird zu einer Auseinandersetzung mit und zum Abgleich von sehr ungleichen „Kulturerfahrungen“. Dabei dürfen die Erziehungsstelleneltern eben nicht gewalttätige Prozesse und Problemlösungsmuster eskalieren lassen und werden doch genau mit entsprechenden Erfahrungen und Erwartungen des jungen Menschen konfrontiert. So berichten beispielsweise viele Erziehungsstellen, dass ihr aufgenommenes Kind nicht auf eine Ansprache in normaler Tonlage reagiert, sondern scheinbar nur auf ein Anschreien und quasi „um Prügel bettelt“, dass ihr pubertärer Jugendlicher offene Drohungen ausspricht und mit körperlicher Gewaltbereitschaft reagiert oder dass ein Kind ein sehr reduziertes Schmerzempfinden hat etc. .
Erziehungsstellen können dies als einen Kulturschock erleben und empfinden sich manchmal im Aushalten eines solchen Zustandes regelrecht als „Opfer“ katastrophaler Beziehungserfahrungen des jungen Menschen. Im Balancierungsprozess um Macht und Spielregeln des Zusammenlebens haben sie oft das Gefühl, sich einseitig um einen gewaltfreien Umgang zu bemühen, dies wirkt oftmals sehr frustrierend und belastend, so dass Überforderungssituationen und Grenzerfahrungen besonders in der Anfangszeit eher die Regel als die Ausnahme sind. Erziehungsstelleneltern fragen sich, wie sie Grenzen setzen, ein Familienleben strukturieren und Erziehungsziele erreichen können, während der junge Mensch sich weigert, aggressiv reagiert oder „ausrastet“.
Die oben geschilderte erzieherische Stärke in Erziehungsstellen ist also nicht per se vorhanden, sondern kann sich erst mit Beginn eines erfolgreichen Beziehungsaufbaus entwickeln und bedeutet harte persönliche und professionelle Arbeit.
Das Konzept der Elterlichen Präsenz
Wie können Erziehungsstelleneltern also im Wissen darum, dass sie „schwierige“ junge Menschen in einem komplexen Gesamtsystem aufnehmen, ihre familiären Beziehungen und erzieherische Stärke gestalten und dabei sich selbst wie auch den jungen Menschen vor gewalttätigen Eskalationen oder demütigenden Grenzverletzungen schützen?
Einen interdisziplinären und systemischen Ansatz bieten hier Haim Omer und Arist von Schlippe mit ihrem Konzept der „Elterlichen Präsenz“. Damit möchten sie Eltern in gefährdeten Situationen aus Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht führen und sie ermutigen, ihre Beziehung zum Kind aus einer starken, Halt, Sicherheit und Orientierung gebenden Elternrolle zu gestalten. Sie gehen dabei von der Grundannahme aus, dass Kinder Eltern brauchen, die prägnant erkennbar sind und klare Positionen haben, welche sie (…) überzeugt und bestimmt vertreten. „Elterliche Präsenz“ heißt für Omer und Schlippe, Eltern Autorität zu verleihen, ohne dabei Gewalt anzuwenden. Eltern sollen sich auf Konfrontationen mit ihren Kindern einlassen, ohne jedoch in eine „Gewinner –Verlierer Spirale abzurutschen. Bei persönlicher Präsenz sind die Quellen der Macht und die moralische Rechtfertigung ein und dasselbe: die Eltern werden dadurch stark, dass sie da sind. Durch ihre Entschlossenheit, mit ihrem ganzen körperlichen, emotionalen und moralischen Sein für das Kind zu sorgen, gewinnen die Eltern ihren Einfluß und ihre Statur. Elternpräsenz ist deshalb das genaue Gegenteil von tyrannischer Macht, dessen Stärke dadurch entsteht, dass das Kind bestraft, geschlagen und verbannt wird, und dessen Ziel es ist, Intimität eher zu verhindern als herzustellen. Der tyrannische Elternteil strebt nach Abstand, der präsente Elternteil nach Kontakt.“ (H. Omer /A. v Schlippe, Autorität ohne Gewalt… Elterliche Präsenz als systemisches Konzept, Vandenhoeck 2004 S 208/209).
Die Erkenntnisse von Omer und Schlippe stützen sich auf Untersuchungen zur Dynamik von Eskalation in Konflikten sowie auf Konzepte eines gewaltfreien Widerstandes wie beispielsweise dem Konzept von Ghandi und lassen sich auf den Alltag von Erziehungsstellen übertragen. Auch hier sind die entstehenden Teufelskreise und Grundmuster in Konflikten und Machtkämpfen gut bekannt, nämlich:
– Der Prozess der symmetrischen Eskalation, in der elterliche und kindliche Feindseligkeiten eine sich verstärkende gegenseitige Feindseligkeit erzeugen und Kinder wie Eltern sich immer machtorientierter entwickeln,
– zum anderen der Prozess der komplementären Eskalation, in der elterliche Nachgiebigkeit gesteigerte Forderungen beim Kind hervorruft und eine Anpassung an ein immer höheres Störungsniveau erfolgt.
Beide Prozesse zusammen führen dazu, dass sich die Interaktionen zwischen Eltern und Kind zunehmend auf die Konfliktebene konzentrieren, so dass sich die Wahrnehmung auf negative und feindseilige Beziehungsanteile einengt. Dadurch verringern sich die Möglichkeiten, Konflikte zu lösen oder durch Versöhnung zu verringern. Wenn Kinder wie Eltern feindselige Drohungen unter Beweis stellen müssen, nimmt die Gefahr von Gewaltausübung stark zu
Der Ansatz von Omer und Schlippe, elterliche Autorität über Präsenz und entsprechende gewaltfreie Methoden zu gewinnen, kommt insbesondere hier zum Greifen, wenn es um die Herausforderung an Erziehungsstelleneltern geht, erzieherisch zu Handeln und Konsequenzen bei Nichteinhaltung von Regeln, Grenzen und Absprachen zu entwickeln. Präsenz können Erziehungsstelleneltern auf mehreren Ebenen entwickeln:
– Auf der verbalen Ebene, d.h. dass sie die Botschaft kurz und prägnant vermitteln, ein bestimmtes Verhalten nicht zu akzeptieren und alles zu tun, es zu stoppen, außer Gewalt anzuwenden.
– Auf der körperliche Ebene, d.h. dass Erziehungsstelleneltern durch ihre Körperlichkeit präsent werden. So wie kleine Kinder „an die Hand genommen werden“, wenn sie bestimmte Regeln erlernen sollen, können Erziehungsstelleneltern ihre Position ebenfalls, der altersmäßigen und emotionalen Entwicklung des jungen Menschen folgend, körperlich ausdrücken. Omer und Schlippe haben hier ein Methodenrepertoire entwickelt, mit dem gewaltfreie körperliche Präsenz über einen bestimmten Zeitraum mit Mitteln u.a. des „sit-ins“, „time-ins“ und der Anwesenheit in bestimmten problematischen „Territorien“ des Kindes wie Zimmer, Straßenecke oder Disko zu zeigen. (siehe auch Omer, Schlippe, Autorität ohne Gewalt, Vandenhoeck 2004).
– Durch die Präsenz Dritter, nicht direkt involvierter Personen in Konflikten als eine Art Öffentlichkeit und Deeskalation fördernde Kontrolle
– Durch Präsenz über Interesse und Anteilnahme, beispielsweise durch Gespräche und Nachfragen
– Durch Vernetzung von Präsenz als systemische Unterstützung der Eltern, beispielsweise den Einbezug von Verwandten, Lehrern, Eltern von Freunden o.ä.
– Über Versöhnungsmaßnahmen, mit der die Erziehungsstelleneltern ihre flexible Autorität und Stärke zeigen können, indem sie den ersten Schritt zur Versöhnungsmaßnahme anbieten, ohne sich dabei als schwach oder als Verlierer zu fühlen.
Im folgenden möchte ich eine Thesensammlung vorstellen, die auf Basis der o. g. Denkmodelle förderliche, prophylaktische Bedingungen für die Gestaltung eines gewaltfreien Alltags nennt und vor dem Abrutschen der Erziehungsstelleneltern und auch der aufgenommenen jungen Menschen in eine Gewaltspirale schützen soll. Ich unterscheide zwischen persönlichen Grundhaltungen, professioneller Alltagsgestaltung und institutionellen Rahmenbedingungen.
Thesen:
Grundhaltungen
– Die Erziehungsstelleneltern müssen bereit sein, dem aufgenommenen jungen Menschen Einfluss und Spielräume zu geben. „Dabei verlieren [Erziehungsstellen] nicht nur Macht, wenn sie die aufgenommenen jungen Menschen konsequenter beteiligen, sondern sie können damit bedeutsamer für die Kinder werden und neue Chancen für den Erziehungsprozess gewinnen.“ (Aufsatz K. Wolf, Professionelle Heimerziehung, Professionalität oder Harmonie?, Zeitschrift „Jugendhilfe“ 1998, Heft 1: 32 – 42) .
– Die aufgenommenen jungen Menschen brauchen Erziehungsstelleneltern, die prägnant und (sich) selbst bewusst sind und klare Positionen haben, welche sie auch im Aushandeln ihrer Beziehung und im erzieherischen Kontakt überzeugt und bestimmt vertreten. Ihre elterliche Stärke muss auf der Macht der „Elterlichen Präsenz“ und „Autorität“ im Sinne der Fähigkeit, kindliche Bedürfnisse zu befriedigen und nicht auf dominanten Herrschaftsanspruch beruhen. Aus dieser Stärke heraus brauchen sie ebenfalls einen Willen zur Versöhnung in Konflikten – ohne sich damit als schwach zu erleben.
– Ein Familiensystem ist keine unpersönliche Einrichtung und steht nicht für eine spezielle Erziehungsmethode, die man „technokratisch“ einsetzen kann. Einfluss, Präsenz und Spielräume betreffen in Erziehungsstellen immer das private Beziehungsgefüge und sind ein persönlicher und emotionaler zwischenmenschlicher Prozess. Die aufgenommenen jungen Menschen prüfen durch ihr Verhalten, besonders durch provokatives oder machtbezogenes Handeln, wie ernst sie „persönlich“ und „privat“ aufgenommen und ausgehalten werden. Die Aufnahme von jungen Menschen gelingt solchen Erziehungsstellen am besten, die ein hohes Maß an Überzeugung und Engagement mitbringen, und damit auch bereit sind, ein bestimmtes Maß an eigenem Leiden, Frustration und Belastung zu tragen.
– Eine ganzheitliche Gestaltung von privatem Leben und Beruf braucht eher Menschen, die diese Arbeit und Lebensgestaltung als eine Lebensaufgabe sehen und die eine ausreichende fachliche Qualifikation, Lebenserfahrung und familiäre Stabilität mitbringen. Erziehungsstellenarbeit ist kein „sozialromantischer Nebenjob“ und kein rein privates soziales Engagement. Es ersetzt auch nicht den Wunsch nach eigenen Kindern und Familie.
– Engagement und Lebensaufgaben basieren auf dem Gefühl, dass die Mühe und Arbeit „Sinn“ machen. Erziehungsstellen sind umso belastungsfähiger, je stärker sie ihre Arbeit in einem Sinnzusammenhang sehen können. Die Unterstützung von Sinnhaftigkeit kann dabei auf mehreren Ebenen erfolgen: Beispielsweise kann sich diese auf die persönliche Lebensplanung beziehen (Lebenssinn) aber auch auf die Grundannahme, dass alles Verhalten eines aufgenommenen jungen Menschen einen Sinn im biografischen Kontext und in der Befriedigung von Bedürfnissen hat, selbst wenn die Verhaltensweisen sehr auffällig oder bizarr sind. Die sich stetig anpassende Konstruktion von Sinnhaftigkeit auf beiden Ebenen aber auch der Schutz vor Sinnverlust, beispielsweise durch Enttäuschungen, Misserfolge und Ohnmachtsgefühle, wenn Kinder sich nicht so entwickeln wie geplant, ist ein wichtiger Teil der Arbeit Die Entdeckung von „Sinn“ schützt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Erziehungsstellen auch davor, den aufgenommenen jungen Menschen einseitig Schuld zuzuschreiben, beispielsweise „böse“ oder „faul“ zu sein und vermindert damit Eskalation in Konflikten. Das Setting der Erziehungsstellenarbeit mit seiner hohen eigenen Verantwortung, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist ebenfalls ein sehr gutes Feld für ein starkes Engagement über die Motivationsebene „Sinn“. Die Erschließung von Sinn wird mit Hilfe von Selbstreflexion, Fachberatung, Supervision und durch Kenntnis von theoretischen Denkansätzen gefördert.
– Für Erziehungsstelleneltern ist es unerlässlich, dass sie sich auf Konfrontationen einlassen wollen und dabei eine gewisse Konfliktfreudigkeit sowie Kreativität in Konfliktlösungen entwickeln. Man könnte dies auch mit einem „sportlichen Ehrgeiz“ (Anstrengungsbereitschaft und Fairplay) umschreiben, um ihre „elterliche Autorität“ und daraus erzieherisches Handeln zu entwickeln. Die Balancierung und Akzeptanz ihrer Macht stellt Erziehungsstellen vor große Herausforderungen, die am besten durch ein aktives, selbstbewusstes und ausdauernd geduldiges Handeln bewältigt werden. Konfliktfähigkeit umfasst dabei zum einen das Wissen um Konflikte und Eskalationsprozesse sowie um die Entstehungsweisen von Gewalt. Zum anderen geht Konfliktfähigkeit mit einem Selbsterfahrungsanteil und einer guten Selbstkenntnis im eigenen Verhalten und Fühlen in Konflikten einher. Je mehr Sicherheit und Selbstvertrauen Erziehungsstelleneltern in ihre eigene Stärke haben und ausstrahlen, umso gelassener können sie bleiben und umso weniger werden sie körperliche Stärke einsetzen wollen oder sich beispielsweise in Gewinner-Verlierer-„Spiele“ verlieren. Hierbei kann es auch zur Stützung dieses Selbstbewusstseins hilfreich sein, neben dem o.g. Wissen auch die Körperebene anzusprechen und beispielsweise Kenntnisse über körperliche Selbstverteidigung und Befreiungsgriffe o.ä. zu erwerben, ohne jedoch die Absicht zu haben, diese anwenden zu wollen.
– Beziehungsarbeit in Erziehungsstellen braucht auch eine aktive Gestaltung der Beziehung der Erziehungsstelleneltern untereinander und zu ihren eigenen Kindern. Eine Erziehungsstelle kann nur so stark und belastungsfähig sein, wie stabil und sicher auch die Paarbeziehung und das eigene Familiesystem sind. Ein Auseinanderbrechen dieses Systems (z.B. bei Scheidung) bedeutet auch für den aufgenommenen jungen Menschen häufig das Ende dieser Hilfe und Beziehungsabbruch. Genügend Aufmerksamkeit und Kommunikationsdichte in der Beziehungsgestaltung der Paarbeziehung und eine gute Beobachtung und Unterstützung der eigenen Kinder helfen, die Belastungen besser zu tragen. Für die Erziehungsstelleneltern sind auch gemeinsam erlebte Fortbildungen oder gemeinsame Beratung und Supervision gute Hilfen, sich auf das Geschehen in der Erziehungsstelle mit gemeinsamen Blick zu verständigen und sich im erzieherischen und familiären Handeln abzusprechen. Mit den Kindern können beispielsweise Urlaube und Unternehmungen in wechselnden Konstellationen hilfreich sein.
Rahmenbedingungen
- Ein adäquater und legitimierter Umgang mit Macht und Konsequenzen im Umgang mit Gewalt, Gewaltbereitschaft und Grenzverletzungen kann nur individuell bezogen auf den Erziehungsprozess eines bestimmten Kindes / Jugendlichen und auf eine bestimmte Erziehungsstelle gefunden werden. Es bedarf einer Abwägung und Abgrenzung:
- Welche Aufträge hat die Erziehungsstelle und welche Ziele haben Priorität,
- Welches erzieherisches Handeln bedeutet (noch) „Stärke“ oder „konsequentes Verhalten“ und wo wird es zu Grenzverletzung, Erniedrigung oder Gewalt,
- Welches Verhalten noch ist ein legitimer körperlicher Eingriff und wo wird es zu „Körperverletzung,
- Wie wird im Rahmen eines familiären Interaktionssystems mit Gefühlen wie Ärger und Wut umgegangen im Sinne einer eindeutigen und emotional erlebbaren Reaktion auf ein Verhalten und wo wird dieses zu Liebesentzug, Verängstigung oder verbaler Gewalt.
Eine professionelle und legitimierte Erziehung muss diese Festlegungen, „mit welchem Ziel man wie weit gehen darf“ begründen. Im Rahmen von Fachberatung, Erziehungs- und Zielplanung oder in Form von Schutzkonzepten müssen diese Fragestellungen reflektiert und dokumentiert werden. Die MitarbeiterInnen in Erziehungsstellen sollen mit diesen Entscheidungen, besonders in schwierigen und krisenhaften erzieherischen Situationen oder wenn sie in einen Grenzbereich geraten, nicht alleine stehen, sondern sie brauchen zum Erfahrungsaustausch, Gewinn an Sicherheit und Sensibilität, sowie zur und Entlastung .Unterstützung durch ein Team von Kollegen und/ oder dem Fachberater.
Ebenso müssen die einrichtungsinternen Wege in der Bearbeitung und den Konsequenzen von Gewalthandlungen bekannt sein.
Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen ebenfalls wissen, wo und wie weit sie geschützt reflektieren können und ab wann Gewalt arbeitnehmerische, privatrechtliche- und strafrechtliche Folgen hat. Der private Rahmen und die Vermischung der Ebenen „Privatsphäre“ und „Beratung“ und „Dienst- und Fachaufsicht“ verführen zu Missverständlichkeiten und Ausblendung einzelner Aspekte.
– Schon vor einer Aufnahme eines jungen Menschen sollten sich zukünftige Erziehungsstellen genau damit beschäftigen, was sie erwartet und für wie belastungsfähig sie sich halten. Ein ausführliches Aufnahmeverfahren von Trägern und eine Schulung zukünftiger Erziehungsstellen hilft, die Risiken einer Überforderung zu verringern, auch wenn allen Beteiligten bewusst sein muss, dass wesentliche Kompetenzen erst im Erziehungsstellenalltag erlernt werden können.
– Die Frage nach der Entstehung von Überforderungssituationen und Gewalt wird maßgeblich schon mit der Aufnahmeentscheidung eines jungen Menschen in eine Erziehungsstelle beeinflusst. Vor einer Aufnahme müssen daher im Rahmen eines differenzierten Aufnahmeverfahrens der Einrichtung und der Erziehungsstelle sowie der zu erbringenden Eingangsqualität des belegenden Jugendamts zunächst einmal ausreichende und valide Informationen zur Einschätzung des jungen Menschen, seiner Herkunftsfamilie und den Möglichkeiten der Erziehungsstelle zusammengetragen werden und ein intensiver und dichter gemeinsamer Austausch muss erfolgen. Es muss geprüft werden, ob die Erziehungsstelle den Bedürfnissen des jungen Menschen gerecht werden und ein entsprechendes Setting zur Verfügung stellen kann. Hierzu müssen die Ziele, Zeitperspektiven und die Art der damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten von Beziehung, sowie die Art der Anbindung des jungen Menschen im Familiensystem angemessen, realistisch und spezifisch reflektiert und geplant werden. Vereinfacht: Je kürzer der Aufenthalt umso mehr ist eine Arbeits-Beziehung statt Beziehungs-Arbeit die Basis des erzieherischen Handelns und gemeinsamen Lebens. Es muss deutlich werden, mit welcher Nähe bzw. Distanz der junge Mensch „in“ oder „an“ der Erziehungsstellenfamilie leben kann und ob es sich um eine Angebot auf Kurzzeit oder um eine mittel- oder gar langfristige Familienanbindung mit evtl. lebenslangem Beziehungsangebot auch nach Beendigung der Jugendhilfe handelt. Nach diesen Vorklärungen muss eine Kontakt- und Anbahnungsphase erfolgen, in der alle Beteiligten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zum Zusammenleben überprüfen können.
– Die Arbeit in Erziehungsstellen ist eine sehr verantwortliche, komplexe und herausfordernde Arbeit. Trotz oder gerade wegen ihrer Stärke durch den Einbezug privater Lebenszusammenhänge braucht sie eine gute Einbettung in ein professionelles Gesamtsystem. Mit Hilfe eines professionellen Settings sollen Erziehungsstelle in die Lage versetzt werden, die Komplexität des Geschehens zu durchschauen, den Ansprüchen an öffentlich legitimierter Erziehung gerecht zu werden und eine stabile Balance zwischen persönlicher Betroffenheit im Beziehungserleben und professioneller Distanz zu schaffen.
Die Gefahr einer Entwicklung von Gewaltprozessen in Erziehungsstellen kann verringert werden:
– durch die Möglichkeit regelmäßiger Supervision möglichst beider Erziehungsstelleneltern
– durch eine regelmäßige aber auch bedarfsorientierte Fachberatung
– regelmäßigen, fachlichen Austausch mit anderen Erziehungsstellen
– Fortbildungen für beide Erziehungsstellenelter
– Unterstützung in Krisen durch Beratung und Hilfe beim Krisenmanagement beispielsweise durch Moderation von Konfliktlösungsgesprächen – Entlastung durch Vertretung
– Erziehungsstellen haben nicht nur eine Machtbalance in ihrem Familiensystem auszutarieren, sondern auch im Gesamtkomplex der Erziehungsstellenarbeit, nämlich zu den Parteien „öffentliche Jugendhilfe“, „Träger“ und „junger Mensch“, sowie „Herkunftsfamilie:
– Erziehungsstellen benötigen für ihre Arbeit einen Respekt vor ihrer Privatsphäre, da diese ein konstituierendes Element der pädagogischen Arbeit ist und da die Familienmitglieder einer Erziehungsstelle auch einen Anspruch auf „Daten- /Personenschutz“ und Privatsphäre haben.
– Andererseits dient die „Öffentlichkeit“ und Transparenz des Geschehens auch der eigenen Legitimation und Absicherung des Handelns. Besonders bei „Missbrauch“ und „Körperverletzung“ dient ein geplantes, transparentes und gut dokumentiertes erzieherisches Handeln auch als Eigenschutz vor Vorwürfen und als Schutz vor eigenen Gewalthandlungen und Grenzverletzungen. Erziehungsstellen haben damit eine besonders hohe Verantwortung in ihrer erzieherischen Arbeit, da ein „Zuviel“ an Privatraum ihre öffentliche Legitimation und Absicherung ihres Erziehungsbemühens schmälert und ein „Zuwenig“ dem Setting nicht gerecht wird und sie ihre Stärke in der Erziehungsleistung verspielt.
– Erziehungsstellen leben in dem Zwiespalt, dass sie einerseits ihre Professionalität im Sinne einer möglichst „normalen“ und nicht stigmatisierende Lebensform für den jungen Menschen nach außen nicht betonen wollen, andererseits in den Außenkontakten aber schon als pädagogische Fachkräfte anerkannt und ernst genommen werden wollen. Ihr nutzt weder die “Scheinwelt“ normale Familie zu sein und ein Verzicht von Professionalität noch die äußerliche Professionalität einer institutionellen Heimerziehung. Erziehungsstellen müssen daher versuchen, sehr individuell, situations- und einzelfallbezogen zwischen diesen beiden Polen hin- und herzuschalten.
– Herkunftsfamilien sollen – besonders intensiv im Falle einer Rückführung – in den Alltag einer Erziehungsstelle mit einbezogen werden. Das ist auch gut so. Andererseits brauchen Kinder eine Orientierung und Sicherheit, damit sie wissen, wer in welchen Rahmen für sie zuständig ist (nicht umsonst fragen Kinder nach Herkunftseltern Besuchen manchmal wer jetzt „zu bestimmen“ hat) und sie brauchen auch einen Schutzraum besonders bei vorherigen Traumatisierungen. Alle Beteiligten im Gesamtsystem der Jugendhilfe müssen wissen und berücksichtigen, dass die Balancierung dieser unterschiedlichen Interessen, unmittelbare Auswirkungen auf den Alltag der Erziehungsstelle hat. Aufgabe der Erziehungsstelle ist es, Partei für den aufgenommenen jungen Menschen zu ergreifen.
– Gerade weil die Arbeit von Erziehungsstellen in einem zu respektierenden privaten Raum stattfindet, benötigen alle Beteiligten im Jugendhilfesystem klare professionelle Standards und Transparenz in ihrer Zusammenarbeit die den Schutz der jungen Menschen wie der Erziehungsstellen vor Gewalt, Machtmissbrauch und Grenzverletzungen sichern. Die Standards müssen so formuliert sein, Verantwortlichkeiten, Handlungsabläufe, „Dienstwege“ und zu erbringende Leistungen eindeutig sind, aber auch ein individuelles familien- und einzelfallangemessenes Handeln ermöglichen. Die Arbeit in den Erziehungsstellen kann qualitativ nur so gut sein, wie hoch und professionell ihre Standards sind.
Zusammenfassung
Erziehungsstellen sind ein sehr spezielles Jugendhilfeangebot, das ein professionelles erzieherisches Handeln im privaten Raum eines familiären Systems miteinander vereinen will. Erziehungsstellen können eine sehr intensive und professionelle Erziehung leisten, wenn es Ihnen gelingt, ihre Stärken zu entwickeln und ihre Risiken professionell zu kalkulieren. Die persönliche Auseinandersetzung des eigenen Umgangs mit Macht, Aggressionen und Gewalt kann dieser Aufsatz nicht ersetzen. Aber er stellt fest, dass das System Erziehungsstellen nur so gut arbeiten kann, wie es durch qualitativ gute und professionelle Standards festen und Halt gebenden Boden unter den Füßen hat.
Die Erziehungsstellenarbeit im Gesamtsystem der Jugendhilfe ist sehr komplex und nicht ohne Brüche, wie gerade auch das Spannungsfeld von professionellem Handeln in einem privaten familiären Zusammenhang zeigt. Gelingt es jedoch, dieses Spannungsfeld produktiv zu gestalten und auch hier die Macht und Interessen aller Beteiligten in gegenseitiger Akzeptanz auszubalancieren, sind Erziehungsstellen eine sehr effektive, flexible und den individuellen Bedürfnissen der aufgenommenen jungen Menschen wie auch ihrer Herkunftsfamilien gerecht werdende Hilfeform.
Zum Autor
Michael Husen ist Diplompädagoge und Geschäftsführer des Sozialpädagogischen Familienverbund Braunschweig GbR. Seit mehr als 16 Jahren lebt und arbeitet er als „Erziehungsstelle“. zusammen mit seiner Frau und eigenen Kindern.
Literatur:
Bundesministerium der Justiz „Gewaltfreie Erziehung“ Eine Bilanz nach Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung 2003, unter fachlicher Beratung von: Prof. Dr. Kai-D. Bussmann Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg,
Manfred Busch Umgang mit massivem Fehlverhalten – eine Einleitung in M. Fegert, M. Wolff Sexueller Missbrauch durch professionelle Institutionen, Votum 2002,
Matthias Moch/Matthias Hamberger, Kinder in Erziehungsstellen, eine empirische Analyse ihrer Vorgeschichte und ihrer aktuellen Lebenssituation, Unsere Jugend, 55, 2003, 3, 98-107
Haim Omer /Arist von Schlippe, Autorität ohne Gewalt, Elterliche Präsenz als systemisches Konzept,Vandenhoeck & R 2004,
Sozialpädagogisches Institut im SOS-Kinderdorf e.V., Heimerziehung aus Kindersicht, Autorenband 4, München 2002,
Klaus Wolf, Machtprozesse in der Heimerziehung Band 2, Votum 1999,
Klaus Wolf, Erziehung zur Selbständigkeit in Familie und Heim, Votum 2002,
Wolf, Klaus: Macht, Pädagogik und ethische Legitimation. In: Evangelische Jugendhilfe, 77 Jg. (2000), H. 4, S. 197-206.
Klaus Wolf, Professionelle Familienerziehung: Professionalität oder Harmonie?, Zeitschrift „Jugendhilfe“ 1998, Heft 1: 32 – 42
Klaus Wolf, Schwierige Jugendliche –ohnmächtige Erzieher? Über Machtprozesse zwischen Jugendlichen und Erwachsenen im Heim, Zeitschrift „Jugendhilfe“ 2000, Heft 3: 139 – 147